Wie auch schon die zuvor beschriebenen Spielteile ist das Spiel um den Sommervogel, im Volksmund auch „Täublesstehlen“ genannt, für das Narrengerichtsspiel von größter Bedeutung.
Der Sommervogel tritt in Gestalt einer Taube auf und lässt sich in einem eigens dafür hergerichteten Nest im Mittelpunkt des venezianischen Reiches, dem Marktplatz nieder. In diesem Spielabschnitt ist der uralte Kampf zwischen Sommer und Winter verkörpert. Auch zeigt sich hier wiederum das komplexe Spiel mit dramatischer Handlung. Der Kampf zwischen den Jahreszeiten Sommer und Winter, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Recht und Unrecht und zwischen Gut und Böse sind die Axiome dieses fastnachtlichen Spiels. Die „jüngsten Bürger“, d.h. diejenigen jungen Ehemänner, die zuletzt geheiratet haben, übernehmen die Nestwache.
Diese 2 jüngsten Bürger werden im Spiel Wehrer genannt und verteidigen den Sommervogel mit Hilfe großer Tannenzweige. In diesem Spielabschnitt tritt der Bürgermeister von Grosselfingen, wie bereits zuvor der Ortspfarrer, aktiv in das Spielgeschehen ein.
Da der Bürgermeister, im Spiel Gemeindevogt genannt, die Echtheit des Sommervogels bezweifelt, kommt es zwischen ihm und dem Narrenvogt zu einem lustigen Dialog.
Indem der Gemeindevogt sich mehrfach negativ über den Sommervogel äußert, bringt er die Volksseele zum Kochen.
Mit Hilfe der Narrenbrille (ohne Gläser) erkennt der Gemeindevogt seinen Irrtum:
„Ha,ha der Vogel in dem Käfig, er ist ja aus Venedig, ihn Sommervogel nennt man hier zu unseres Adels größter Zier.“
Diese Erkenntnis lässt unter dem Volk des Venezianischen Reichs unbeschreiblichen Jubel aus.In dem anschließend gemeinsam gesungenen „Kukulied“ spiegelt sich die große Freude über die Ankunft des Sommervogels wieder.
Nach dem gemeinsamen Singen des Kukuliedes ordnet sich der gesamte Zug entsprechend seiner Formation. Er zieht sodann am Sommervogel vorbei, um ihm durch ehrfurchtsvolles Verneigen die Huldigung zu erweisen. Währenddessen wird die Nestwache, die Wehrer, von einem Fremden, genannt „Verführer“ mit einem Trunk zum Ungehorsam verführt und somit abgelenkt. Der Verführer spricht bei der Bestechung:
„Komm‘ her mein Freund und stärke Dich, die Arbeit ist zu schwer für Dich!“
Er trinkt nun mit einem der Wehrer ein Glas Wein. Danach wendet sich der Verführer dem anderen Wehrer zu und spricht:
„Auch Du komm zu uns hierher, und trink’ einen Becher mit uns leer!“
Während auch der 2. Wehrer ein Glas trinkt, können die Räuber den Sommervogel samt seinem Nest ungesehen rauben.
Der nun folgende Ruf des Verführers ist für alle Mitspieler eine Katastrophe:
„Haha, der Streich, der ist gelungen, der Vogel samt dem Nest genommen!“
Das jetzt einsetzende markdurchdringende Jammern und Wehklagen bringt die Mitspieler in ein heilloses Durcheinander, zerstört doch der Verlust des geliebten Sommervogels jede Hoffnung auf die Wiederkehr des Sommers. Doch schon naht Rettung. Die Räuber werden verfolgt und mit Hilfe von Gewehrschüssen, die von den Jägern in die Luft gefeuert werden, eingefangen.
Die 2 Räuber werden durch die Profosen mit Stricken gefesselt und dem Gericht vorgeführt. Hierbei zeigt sich in besonderer Weise die hohe Polizeigewalt, welche die Profosen inne haben. Das Gericht tagt sofort unter freiem Himmel. Der Furier erhebt Anklage gegen die Sommervogelräuber:
„Dargestellt ist das Verbrechen, dargestellt die Liederlichkeit, ja dargestellt die verworrene Frechheit der elenden Sommervogelräuber. Ihnen ist deshalb durch unseren Vogt und Magistrat ein Urteil zuteil geworden, das meine lieben Zuhörer jetzt vernehmen sollen. Ja allen werden bekannt sein die scharfen Befehle, die unser großgünstiger Vogt, wie auch der Magistrat, vor über 500 Jahren der ganzen Welt erteilt haben.“
„Es ist bei aller Strenge verboten, dem lieben Sommervogel etwas Leid`s anzutun, z.B. ihn zu stören, besonders ganz ungehindert ein Nest aufbauen zu lassen, aber noch viel schärfer lautet der Befehl gegen denjenigen, der sich sogar erfrechen würde, das Nest zu rauben, oder ihn gar zu töten suche. Ungeachtet all dessen erfrechen sich doch die Bösewichte und haben ihn geraubt. Ein Glück ist es für uns, dass unsere wackeren Leute die Räuber einholten, es wird den schlechten Gesellen um das Leben gehen, denn das Urteil lautet:“
Der Platzmajor tritt vor:
„Räuber, Missetäter! Euer Verbrechen ist entdeckt. Ihr seid der Tat überführt und werdet nun auch geduldig die Euch durch den hochweisen und unfehlbaren Vogt und Magistrat zuerkannte wohlverdiente Strafe aushalten. Ihr habt als Räuber unseres Sommervogels Euer Leben verwirkt. Die Strafe ist gerechtfertigt durch die Große und die Folgen des unnatürlichen Verbrechens. Bedenkt welche Wohltaten wir unserem Sommervogel zu verdanken haben. Mit seiner Ankunft in unserer Residenz ist auch diejenige des Sommers verbunden. Ware jener uns geraubt geblieben, dann wäre uns auch der Sommer geraubt gewesen. Schreckliche Folge!
Seine Anwesenheit belebt den hochweisen Vogt und Magistrat und stärkt ihn in der Ausdauer im Unrecht. Unser ganzer Adel, unsere adelige Jugend, sie alle empfangen ihre Weisheit und Tugend durch die nicht zu ermessende Weisheit unseres Vogels.“
„Durch den Sommervogelraub habt Ihr uns auch gleichzeitig alle, die uns durch diese zufließende Wohltaten berauben wollen. Ihr habt durch das Beispiel des Diebstahls die Herzen und den Willen unserer Jugend vergiftet. Ihnen war bisher das Verbrechen durch Räuber unbekannt. Eure auch jetzt noch verbrecherischen Gesichter zeigen, dass Ihr die Größe Eures Verbrechens fühlt, dass Ihr Euch deshalb wohl mit dem Tode aussöhnen könntet.“
„Allein es wird Euch nach soeben eingegangener Mitteilung Gnade zu Teil. Der hochweise Magistrat hat in Erwägung, dass die Sommervogelräuber glücklich eingefangen worden sind, und wir wieder im Besitze unseres vielgeliebten Vogels sind, das über Euch verhängte Todesurteil in folgende Strafe gemildert:“
„Ein stark wallender Fluss soll Euch aufnehmen ohne Euch jedoch zu ersäufen. Dieserhalb soll Eure hintere Paarseite vornehmlich herhalten, weil diese Abteilung nicht so leicht der Lebensgefahr ausgesetzt und somit das Ertrinken weniger zu befürchten ist. Der hochweise Vogt wird über Euch den Stab brechen und dann, ihr Diener der Gerechtigkeit, vollzieht die Strafe an den fürchterlichen Delinquenten, die ihnen unser hochweiser und unfehlbarer Vogt und Magistrat in ihrer Weisheit zuerkannt hat.“
Der Narrenvogt tritt vor:
„Räuber, Missetäter und Verbrecher! Da ihr diese freche Tat begangen und euch an unserem lieben Sommervogel vergriffen habt, sollt ihr der gerechten Strafe nicht entgehen. Ich breche über euch den Stab und spreche euch das Leben ab!“
Der Sommervogel wird samt seinem Nest durch eine Heiducke, im Volksmund Heudogge genannt, dem Narrenvogt übergeben. Der Sommervogel wird durch den Vogt in die Freiheit entlassen und er schwingt sich unter dem unbeschreiblichen Jubel des Volkes in die Lüfte. Der Sommer kann jetzt Einzug halten. Dabei hält der Hochgrobgünstige Vogt abermals eine zwar kleine, aber dafür treffende Ansprache:
„Das Gute hat gesiegt, das Böse ist gerichtet. Der Sommervogel fliege frei, und bringe uns den Frühling herbei!“
Als Zeichen der großen Gnade, die das Venezianische Reich selbst Schwerstverbrechern noch erweist, wird das eiskalte Wasser des Narrenbrunnens durch die Bäder mit brennenden Strohwischen erwärmt. Die zum Wassertod Verurteilten werden durch die Heiducken ergriffen und in den brennenden Brunnen geworfen.